Das Schmerzgedächtnis – Entstehung, Vermeidung und Löschung

Akute Schmerzen können sich zu chronischen Schmerzen entwickeln. Diese Chronifizierung hängt mit dem Schmerzgedächtnis zusammen: Der Körper merkt sich lang anhaltende oder starke Schmerzen und bildet ein Schmerzgedächtnis. Der Betroffene spürt somit Schmerzen, obwohl die einstige Ursache nicht mehr besteht. Dieser erlernte Schmerz kann jedoch vermieden und ebenso wieder gelöscht werden.

Wie entsteht ein Schmerzgedächtnis?

Der Prozess der Bildung eines Schmerzgedächtnisses kann mit dem Lernen verglichen werden. Im Langzeitgedächtnis wird all das abgespeichert, das durch Wiederholungen erlernt wurde. Möchte man beispielsweise eine Fremdsprache erlernen, werden die Vokabeln solange wiederholt, bis sie sich im Langzeitgedächtnis verankert haben. Bei diesem Vorgang werden Spuren im Gedächtnis gebildet, sodass das Erlernte schnell abrufbar ist.

Das Prinzip der Entstehung eines Schmerzgedächtnisses ist ähnlich, denn auch hierbei findet ein Lernprozess statt. Um diesen Vorgang verstehen zu können, muss zunächst verstanden werden, wozu Schmerzen gut sind, wie ein akuter Schmerz vom Körper wahrgenommen und letztlich zum chronischen Schmerz werden kann.

Akute Schmerzen: Warnsignale zum Schutz des Körpers

Akute Schmerzen übernehmen eine Art Warnfunktion und weisen auf eine Störung des Körpers hin. Der Mensch kann somit entsprechend reagieren, um eventuelle größere körperliche Schäden zu verhindern. Ohne Schmerzempfinden würde man Entzündungen oder Verletzungen nicht spüren und das könnte fatale Folgen. Greift man beispielsweise auf eine heiße Herdplatte, werden in Sekundenschnelle Signale von den Schmerzrezeptoren der Haut an das Gehirn gesendet. Dadurch wird die Hitze der Herdplatte als schmerzhaft wahrgenommen und in Reaktion darauf zieht man die Hand weg.

Solche Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) befinden sich im gesamten Körper. Diese Sinneszellen reagieren sensibel auf Reize aus dem Inneren des Körpers (z.B. Entzündungen) sowie auf Reize von außen (Kälte, Hitze, Verletzungen u.ä.).

Sobald die Nozizeptoren einen schädigenden Reiz wahrnehmen, lösen sie ein elektrisches Signal aus, welches über Nervenzellen zum Rückenmark und von dort aus zum Gehirn weitergeleitet wird –vereinfacht dargestellt.   Der Schmerz wird vom Menschen wahrgenommen, sobald die Information im Gehirn angekommen ist.

Die Stärke des Schmerzempfindens ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Der Körper produziert auch in extremen Situationen bestimmte Stoffe, die dafür sorgen, dass der Schmerz schwach oder kurzfristig gar nicht empfunden wird. Bei einer schweren Verletzung durch einen Unfall werden beispielsweise vermehrt Endorphine ausgeschüttet, sodass das Schmerzempfinden erst später einsetzt.

Akuter Schmerz ist also überlebenswichtig und stets eine Folge einer Gewebeschädigung. Schmerz hat eine Warnfunktion, sodass Lebewesen lernen, bestimmte Handlungen nicht ein zweites Mal zu machen – wie im Beispiel mit der heißen Herdplatte – oder entsprechend der Verletzung oder Entzündung vorsichtiger zu sein. Zudem ist die Wahrnehmung von Schmerz subjektiv: Jeder Mensch nimmt Schmerzen unterschiedlich wahr und verarbeitet sie auch unterschiedlich.

Wie aus akuten Schmerzen chronische Schmerzen werden können

Normalerweise halten akute Schmerzen lediglich kurzfristig an.  Die maximale Dauer von akuten Schmerzen beträgt zwölf Wochen.

Bleiben die Schmerzen jedoch länger als drei Monate bestehen, spricht man von chronischen Schmerzen. Chronische Schmerzen sind von der Ursache losgelöst und stellen eine eigenständige Krankheit dar. Das Gehirn gewöhnt sich sozusagen an die Situation und die Schmerzen bleiben im Gehirn und in den Nerven bestehen, obwohl die Krankheit/ die Ursache bereits behoben ist.

Es werden ständig Schmerzimpulse über die Nervenbahnen durch den Körper geleitet. Es kommt somit zu einer permanenten Reizung der Nervenbahnen und die Nervenzellen reagieren immer sensibler auf die Reize. Aufgrund dieser wiederholten Schmerzreize kann es zu einer Veränderung der Struktur von Gehirn, Rückenmark und den Nervenzellen kommen, die Schmerzen verarbeiten. Es kommt zu einer Umprogrammierung der Nervenzellen. Die Schmerzschwelle wird herabgesetzt, denn durch die erhöhte Sensibilität werden die Schmerzsignale wesentlich schneller an das Gehirn weitergeleitet. Das Nervensystem hat sich also durch Wiederholungen die Signale gemerkt und kann die Informationen schneller abrufen – das Schmerzgedächtnis ist entstanden. Das Schmerzempfinden ist nun übersensibel und es wird selbst bei kleinsten Reizen mit zu starken Schmerzen reagiert. Das Schmerzempfinden wird auch dann ausgelöst, wenn gar kein Schmerzreiz vorhanden ist.

Nun sind aus akuten Schmerzen chronische Schmerzen geworden. Das Nervensystem reagiert mit Schmerz und dazu sind jetzt keine Schmerzreize mehr notwendig. Die Ursache für den Schmerz ist nicht mehr vorhanden und trotzdem spürt der Betroffene Schmerzen, weil dem Gehirn weiterhin Signale gemeldet werden. Die Schmerzen können auch auf weitere Körperstellen ausstrahlen, bzw. werden dann auch die Nervenzellen der Nachbarregionen umprogrammiert.

Der ursprüngliche Sinn des Schmerzes, nämlich die Warnfunktion, ist verloren gegangen und die Schmerzen haben sich verselbstständigt.

Chronische Schmerzen bestehen somit länger als 12 Wochen und sind eine eigenständige Erkrankung. Die Schmerzen sind von der Ursache losgelöst. Während akute Schmerzen wieder verschwinden, bleiben chronische Schmerzen bestehen, sodass ein Schmerzgedächtnis entsteht.

Nicht bei allen Menschen entwickelt sich ein Schmerzgedächtnis, wenn Schmerzen länger anhalten. Warum einige Personen nach einer Krankheit unter chronischen Schmerzen leiden und andere nicht, ist noch nicht vollständig erforscht. Man geht davon aus, dass die Genetik, die Psyche und das soziale Umfeld Einfluss auf eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit nehmen. Menschen, die ihren Fokus zu stark auf den Schmerz lenken, nehmen die Schmerzen stärker wahr, sodass sich wahrscheinlich eher ein Schmerzgedächtnis bildet.

So kann die Entstehung des Schmerzgedächtnisses vermieden werden

Oft sind chronische Schmerzen die Folge falsch behandelter oder unbehandelter akuter Schmerzen. Damit erst gar kein Schmerzgedächtnis entstehen kann, sollten akute Schmerzen rechtzeitig und zielgerichtet behandelt werden. Mittelfristig sollten so wenige Medikamente wie möglich, aber so viel wie nötig eingesetzt werden.

Neben der Behandlung mit Medikamenten sind meistens zudem andere Maßnahmen wichtig, damit nach Absetzen der Arzneimittel  nicht wieder Schmerzen auftreten. Zum Beispiel könnte Physiotherapie eine solche nicht-medikamentöse Maßnahme sein. Auch ist häufig die Selbstinitiative des Betroffenen gefragt, der eigene Maßnahmen ergreifen sollte, um erneute Schmerzen oder das Bestehenbleiben der Schmerzen zu verhindern. Ein Beispiel sind Rückenschmerzen, die durch mangelnde Bewegung verursacht wurden. In dem Fall müsste der Betroffene selbst aktiv werden und für mehr Bewegung im Alltag sorgen.

Kann man das Schmerzgedächtnis löschen?

Das Schmerzgedächtnis lässt sich nicht einfach wieder löschen. Es ist jedoch mit einer gezielten Schmerztherapie möglich, das Schmerzgedächtnis umzuprogrammieren.

Bei einer Schmerztherapie werden verschiedene Maßnahmen miteinander kombiniert. Die Therapie wird dabei auf die einzelne Person abgestimmt. Es gibt also nicht das eine Schmerzmittel oder die eine Methode, um chronische Schmerzen zu behandeln. Deshalb wird ein multimodaler Ansatz angestrebt, sodass mehrere Maßnahmen kombiniert werden.

Mögliche Maßnahmen sind unter anderem:

  • Medikamente
  • Krankengymnastik
  • Akupunktur oder andere alternative Verfahren
  • Massagen, Elektrotherapie und weitere physikalische Therapien

Auch Entspannungstechniken können hilfreich sein, um Körper und Geist zu entspannen, denn oftmals drehen die Gedanken sich zu sehr um die Schmerzen. Wird der Fokus zu sehr auf die Schmerzen gelenkt, werden die Schmerzen stärker wahrgenommen. Welche Entspannungsmethoden angewendet und erlernt werden, ist wieder vom Einzelnen abhängig. So können für den einen spezielle Atemübungen und für den anderen mentale Techniken oder Körpertechniken hilfreich sein.

Lernen, mit dem Schmerz anders umzugehen

Betroffene von chronischen Schmerzen haben sich im Laufe der Zeit unbewusst angewöhnt, den Schmerzen (zu)  viel Aufmerksamkeit zu schenken. Immer, wenn man auf etwas den Fokus lenkt, wird dies verstärkt wahrgenommen. Vor einem Autokauf wird dieses Phänomen oftmals bemerkt: Man interessiert sich für ein rotes Auto der Marke XY und plötzlich nimmt man täglich diese roten Autos der Marke XY wahr.

Beim Thema Glück ist es nicht anders. Ob jemand glücklich ist oder nicht, hängt größtenteils damit zusammen, wohin er seine Aufmerksamkeit lenkt. Menschen, die ihren Fokus auf die schönen Momente des Lebens richten, empfinden ein stärkeres Glücksgefühl als diejenigen, die in erster Linie negative Dinge fokussieren. Möchte man sich also glücklicher und zufriedener fühlen, kann man seine Gedanken umprogrammieren, sodass der Fokus umgelenkt wird.

Bei chronischen Schmerzen muss also das Schmerzgedächtnis umprogrammiert werden, indem man es mit anderen, neuen Informationen überschreibt. Dazu muss der Betroffene selbst aktiv werden, um den Schmerzen die Macht zu nehmen.

Hilfreich ist ein Hobby, das einem Spaß macht und in dem man voll und ganz aufgeht. Dabei wird die Aufmerksamkeit automatisch auf das Hobby gerichtet, sodass die Schmerzen in dieser Zeit nur schwach wahrgenommen werden.

Lernen geschieht durch Wiederholung und chronische Schmerzen sind erlernt. Unbewusst wurde das Nervensystem darauf programmiert, auf Schmerzen übersensibel zu reagieren. Nun gilt es wieder umzulernen.

Manchmal ist das Ausüben eines Hobbys jedoch kaum möglich, weil die Schmerzen im Wege stehen. Dann kann gemeinsam mit dem Arzt eine medikamentöse Behandlung erfolgen, sodass der Betroffene eine Schmerzfreiheit erfährt und sich beispielsweise schmerzfrei bewegen und sein Hobby ausüben kann.

Die alleinige medikamentöse Behandlung wird jedoch keinen Erfolg bringen. Erst in Kombination mit der Eigeninitiative des Patienten kann das Schmerzgedächtnis umprogrammiert werden. Es ist also ein Umlernungsprozess, der Zeit und Geduld benötigt. Die Medikamente sollen später wieder langsam ausgeschlichen werden und damit es dann nicht zu erneuten Schmerzen kommt, sind die zuvor erlernten Maßnahmen sowie Verhaltensänderungen wichtig.

Veröffentlichung
Zuletzt aktualisiert
Autoren
Quellen
  • Ralf Baron, Wolfgang Koppert, Michael Strumpf, Anne Willweber-Strumpf: Praktische Schmerzmedizin: Interdisziplinäre Diagnostik - Multimodale Therapie. Springer-Verlag, 2013
  • https://www.uni-heidelberg.de/presse/ruca/ruca1_2002/flor.html (Abruf: 02.07.2019)
  • https://www.aerzteblatt.de/archiv/29086/Schmerzgedaechtnis-Entstehung-Vermeidung-und-Loeschung (Abruf: 02.07.2019)
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